Sarah erklärte in einer Sitzung, dass sie sehr ausgelaugt sei. Sie wäre sehr glücklich, dass Mike nun verstanden habe, worum es ihr geht. Allerdings habe es sehr viel Kraft gekostet, diesen langen Kampf zu bestreiten.
Mike sein Leben hat sich nach der Geburt ihres gemeinsamen Sohnes nicht geändert, sondern sein altes Leben weitergeführt. Er ging drei Mal die Woche zum Training, am Wochenende ging er zu seinen Spielen, durch seine Arbeit war er erst am späten Nachmittag zu Hause. Dazu traf er sich mit seinen Freunden und ging etwas trinken, Billard spielen oder was auch immer.
Natürlich, wenn Sarah ihn um etwas gebeten hatte, dann erledigte er dies auch. Allerdings hat sie sich gewünscht, dass es auch mal von ihm aus gehen könnte. Insbesondere die Aufgaben mit dem Baby sollten nicht nur in ihrer Verantwortung liegen. Sie wünschte sich viel mehr gemeinsame Zeit zwischen dem Vater und seinem Sohn. Vor allem die Zeit, wenn er zu Hause war, sollte er sich um seinen Sohn kümmern.
Ihr war klar, dass Mike nicht so viel tun solle wie sie, dafür hatte sie ja auch Elternzeit genommen. Dennoch sollte er sich ebenfalls einbringen.
Am Anfang sah sich Mike überfordert und war glücklich darüber, dass sich Sarah um das Baby kümmerte. Allerdings bemerkte er auch, wie unzufrieden sie mit der Zeit geworden ist und es immer mehr Vorwürfe gegen ihn gab. In seinen Gedanken hat er sich zurecht gelegt, dass sie doch nun ein schönes Leben führen müsste. Sie ist zu Hause, hat „nur“ den Haushalt und kann sich mit Freundinnen treffen. Mutter-Kind schwimmen, Mutter-Kind turnen sowie Spaziergänge mit dem Baby sind doch herrlich.
Für Mike waren der Sport und seine Freunde sehr willkommene „Fluchtziele“, da er sich zu Hause kaum mehr wohl gefühlt hatte. Dies hatte keine Deeskalation, sondern eher das Gegenteil zur Folge.
Nachdem es darüber erneut einen Streit gegeben hatte, packte Sarah ihre Sachen und ging mit dem Baby zu ihren Eltern. Ab diesem Zeitpunkt verstand Mike die Welt nicht mehr. Die Einsamkeit zerfraß ihn innerlich. Er vermisste seine Lebensgefährtin als auch seinen Sohn sehr, so sehr, dass er zu seinen Schwiegereltern ging und sich mit allen zusammengesetzt hat. Das Gespräch verlief allerdings nicht so, wie er es sich erhofft hatte, denn er fühlte sich mit allem was gesagt wurde, angegriffen.
Die Eltern von Sarah boten den beiden einen Lösungsvorschlag, welchen beide sehr gut fanden und umgehend umsetzen wollten. Sarah und Mike sollten sich an eine dritte, unabhängige Person wenden und eine Paartherapie machen. So kam ich ins Spiel.
Nach einigen Gesprächen, der Austausch über die Empfindungen und Wahrnehmungen, konnte ich einen gemeinsamen „roten Faden“ entwickeln. Insbesondere war es wichtig, beiden die Schuldgefühle zu nehmen und die zuvor erhobenen Vorwürfe zu entschärfen. Nachdem Mike immer mehr verstanden hat worum es Sarah ging, versprach er, sich wesentlich mehr einzubringen und Sarah zu entlasten. Es war wichtig für Sarah, dass es gemeinsame Zeit geben sollte. Er sollte nichts aufgeben, allerdings auch für seine Familie da sein.
Nach wenigen Sitzungen bei mir, zog Sarah wieder zurück in die gemeinsame Wohnung und er hielt sich an die Vereinbarungen. Am schwierigsten war es für Sarah, zu verstehen, warum sie erst ausziehen musste, bis er verstanden hatte, worum es ihr ging.
Diese Wunde war tief und konnte nur mit der Paartherapie wieder geheilt zu wachsen. Für Mike war es eine schwere Zeit, denn es kam bei Streitigkeiten immer wieder zu dem Vorwurf, dass er es nicht allein gesehen hatte.
Die Ängste und Befürchtungen, dass es wieder zu Streitigkeiten kommen könnte, die sie nicht allein lösen könnten, saßen bei beiden tief. Doch in einigen Sitzungen konnte ich beiden eine „gemeinsame Sprache“ mitgeben. Die Zeit, die es brauchte bis Mike verstanden hatte, sollte nicht noch einmal durchlebt werden.
Manchmal braucht es für einen Wandel ein bestimmtes Ereignis. So hat Mike die Erfahrung des „Ausziehens“ gebraucht um zu verstehen. Es gibt Dinge, die brauchen ihre Zeit. Für Sarah war es wichtig zu verstehen, dass es manchmal nicht schneller geht.
Beide haben sich angenommen und akzeptiert, was nicht zu ändern ist.
Für die Zukunft brauchten die beiden noch ein wenig „Handwerkszeug“ um zu verstehen, dass es bei zukünftigen Streitigkeiten nicht eine solche Maßnahme braucht, damit Mike sie wieder sieht. Für Mike war diese Zeit grausam und er möchte diese nie wieder durchmachen. Beide haben mit mir ein Konzept erarbeitet, welches ihnen dabei hilft, sich gegenseitig wahrzunehmen und zu erkennen oder mitzuteilen, wann ein Konflikt sehr wichtig ist für eine Lösung.
Beide haben das Gefühl der Angst noch präsent, wenn sie es hervorrufen möchten. Allerdings haben sie es mittlerweile sehr gut im Griff und stehen fest als Familie zusammen.
Wie im Film „Avatar“ sehen sie sich nun etwas anders als nur zu sehen.
Mike Grohmann, Bielefeld, 19. November 2015